Haben Sie das auch, dieses eine Ding, von dem Sie sich nicht trennen können, egal wie verschlissen, verbraucht oder abgenutzt es ist?
Einen alten Pullover zum Beispiel, den Sie aufbewahren, egal wie hässlich er für einen Betrachter aussehen mag, einen Betrachter, den ganz einfach nichts damit verbindet? Einen Pullover, in dem man vielleicht die aufregendsten Stunden eines besonderen Urlaubs verbrachte? Bei mir waren es lange Zeit Stiefel, braune Biker-Boots, die mich über sehr viele Jahre begleiteten, über Asphalt, Schotter, Wiesen und Äcker trugen. Zuverlässig, bequem, praktisch, lässig und absolut ungepflegt. Das war es jedenfalls, was mir eines Tages der Schuster, dem ich meine Stiefel zum Besohlen anvertraute, mit sehr strengem Blick erklärte: „Leder muss man pflegen! Einfetten! VERSTEHEN SIE DAS? Der Schuster, das verstand ich, hatte sich vermutlich beim Besohlen meiner durchgelaufenen Stiefel so sehr geärgert, dass ihm versehentlich ein etwas zu langer Nagel in die Hände geraten war. Aber das bemerkte ich erst, als ich später mit Schwung in den Stiefel schlüpfte. Ich hing an meinen Stiefeln und pflegte sie weiterhin nicht, bis es wieder Zeit geworden war, mich auf den Weg über die Cremonbrücke zu seinem kleinen Laden am Hopfenmarkt zu machen. Der Schmerz in meiner Ferse war schon lange verziehen, dennoch war ich vor Ort entsetzt, denn der Schuster war gar nicht mehr da. Das ganze Haus war weg. Wie über Nacht verschwunden. Abgerissen, raus gerissen aus der Häuserreihe. Kein Haus, kein Schuster mehr. Ich starrte in eine hohe rechteckige Leere.
Das ist sehr viele Jahre her. Die Lücke wurde schon lange mit heute als modern geltenden Gebäuden geschlossen. Abreißen und neu bauen prägen den Hamburger Stadtkern, die Altstadt und die Neustadt, auch die Cremonbrücke ist vom Abriss bedroht. Sie verbindet Deichstraße und Holzbrücke mit Kleiner Burstah und Hopfenmarkt. Sie hat drei geschwungene, breite Treppen und drei sehr besondere Rolltreppen.
Die Rolltreppen fahren sowohl hinauf als auch hinunter, man muss allerdings den Mechanismus verstehen. Ist die Rolltreppe im Stillstand, dann braucht man sie nur zu betreten und der Mechanismus wird in Gang gesetzt. Wenn die Rolltreppe bereits in Bewegung ist, jedoch in die falsche Richtung, dann muss man warten, bis sie stillsteht. Erst danach ist es möglich, sie in die gewünschte Richtung neu in Bewegung zu setzen. Die Rolltreppe kommt aber erst dann zum Stillstand, wenn sie für ca. 20 Sekunden nicht betreten wird. Wenn man zum Beispiel von unten nach oben möchte, die Treppe jedoch bereits von oben nach unten fährt und von oben ständig neu genutzt wird, dann hat man keine Möglichkeit, die Fahrtrichtung zu stoppen und zu ändern, spätestens dann ist es empfehlenswert, die normale Treppe zu benutzen.
Die Rolltreppen sind praktisch, wenn sie funktionieren. In der Regel sind sie defekt.
Die Cremonbrücke führt über eine sechsspurige Straße, die einst Ost-West-Straße hieß und vor Jahren in Willy-Brandt-Straße umbenannt wurde. Benannt nach einem deutschen Bundeskanzler, der den Friedensnobelpreis erhielt, dessen Bestreben es war, Menschen zu versöhnen, Osten und Westen wieder zu verbinden. Wenn man auf dieser Brücke steht, hat man zur Ostseite einen beeindruckenden Blick auf die Kirche St. Nikolai. Sie ist eine von fünf Hauptkirchen Hamburgs und im zweiten Weltkrieg abgebrannt. Sie steht heute als Mahnmal gegen Krieg und Verbrechen.
Über die Cremonbrücke laufen täglich sehr viele Menschen: Berufstätige, Hamburger in Freizeit und viele Touristen. Sie schlendern, eilen, machen Pausen, betrachten das Mahnmal St. Nikolai, erkennen den Turm von St. Michaelis, machen Erinnerungsfotos und spazieren weiter Richtung Hafencity oder Hopfenmarkt. Es kommen jedes Jahr Schulklassen in unterschiedlichsten Altersstufen aus vielen verschiedenen Nationen. Den Kindern bietet die Brücke einen sicheren Weg, über die sechsspurige Straße hinweg zu toben, ohne auf den Verkehr achten zu müssen. Den Älteren bietet sie die Möglichkeit, gelassen eine stark befahrene Straße zu überqueren, ohne von einer Ampelphase gehetzt zu werden.
Vom Hopfenmarkt aus gelangt man weiter zum Rathaus, zur Binnenalster, zu Geschäften, Cafés und Restaurants, zur Mönckebergstraße, zur Spitalerstraße, von dort zum Hauptbahnhof, zur Kunstmeile und natürlich zur Außenalster. Südlich der Willy-Brandt-Straße gelangt man zur historischen Deichstraße am Nikolaifleet, der Speicherstadt an der Elbe und zur modernen Hafencity natürlich auch. Und immer wieder läuft oder fährt man über Brücken. Brücken gehören wie Alster und Elbe zum Wesen der Stadt.
Die Cremonbrücke ist an dieser Stelle das Herz der fließenden Verbindung. Der Verbindung von Arbeit und Wohnen, von Hafencity, Cremonviertel und Innenstadt, von Altem und Neuem. Und sie ist auch eine Brücke, mit der Menschen etwas verbinden, den Weg zum Schuster zum Beispiel, zu dem man einst seine Lieblingsstiefel brachte. Oder die Nacht der Fußballweltmeisterschaft 2014, als Autokarawanen aus Richtung Deichtorplatz kommend die Willy-Brandt-Straße Richtung Reeperbahn fuhren, Fahnen wehten, Hupen dröhnten, Musik erklang und Menschen sangen.
Die Cremonbrücke soll abgerissen werden. Von verantwortlicher Behördenseite argumentiert man, dass die Brücke platzraubend sei, zu dominant, dass sie die Sichtachse zur Hafencity versperre. Außerdem sei es das Ziel, den Hopfenmarkt neu zu gestalten und das Gebäude auf der ihm gegenüberliegenden Seite durch einen Neubau zu ersetzen, um dadurch den Platz aufzuwerten. Nichts spricht gegen neue Gestaltung, ganz im Gegenteil, aber die Brücke ist wichtiger Bestandteil des Gebietes und sie versperrt keine Sicht.
Den Hopfenmarkt neu zu beleben, ist eine schöne Idee, er wird derzeit als Parkplatz genutzt. Bei der Umwandlung in eine Grünanlage beispielsweise, könnte man die breite Brückentreppe integrieren, das dürfte für jeden Landschaftsgärtner eine zu bewältigende Aufgabe sein.
Das Gebäude an der Willy-Brandt-Straße, Ecke Holzbrücke wird abgerissen. Ein modernes Haus mit Büros und Wohnungen soll errichtet werden, jedoch mit einem erweiterten Grundriss, bei dem die dortige Brückentreppe stört. Man sollte sich am Grundriss des noch bestehenden Hauses orientieren, um so das Sichtfeld zur Hafencity zu erhalten und nicht zu verkleinern.
Man könnte auch ganz auf das neue Bürohaus verzichten, stattdessen eine Grünanlage bis zum Nikolaifleet hin gestalten und einen „grünen Zwilling“ des Hopfenmarktes für die Menschen anlegen, die vor Ort wohnen und arbeiten. Es wäre eine Aufwertung des Platzes. Die Sichtachse zur Hafencity wäre sogar erweitert!
Die Wartungen der Brückenrolltreppen sind teuer. Man könnte ganz auf sie verzichten und stattdessen über bauliche Veränderungen nachdenken, die es auch Menschen im Rollstuhl ermöglichen würden, diese sichere Brücke über eine stark befahrene Straße zu nutzen.
Die Cremonbrücke wirkt auf viele Menschen klobig, sperrig und hässlich. Nichts spricht dagegen, sie zu verschönern, aus ihr einen Lichtblick zu machen.
Sie könnte zum Beispiel eine Umweltbrücke werden, eine kinderfreundliche „grüne“ Brücke, die über eine sechsspurige Verkehrsstraße führt. Man kann aus ihr ein begehbares Kunstwerk machen, einen Blickfang, einen Publikumsmagneten für die Hamburgerinnen und Hamburger, für Millionen von Touristen, die jedes Jahr die Stadt besuchen.
Die Cremonbrücke wird gebraucht und sie ist eine architektonische Besonderheit.
Sie hat das Potential, berühmt zu werden!