Poul

Poul schrieb dann später auf einer Postkarte von seiner Liebe, da war er aber schon wieder zu Hause.


Tuula und ich fanden das schade und auch ein wenig traurig, dass er einfach nicht mehr da war. Wobei es so mit ihm begonnen hatte, ich meine, dass er einfach da war und mit seinem Rucksack im Kennlerncamp stand. Es hatte ihn niemand erwartet, obwohl er versicherte, dass er für das Austauschjahr genauso angemeldet gewesen war wie alle anderen. Nur, Liz hatte nicht mehr mit ihm gerechnet oder sie hatte seine Ankunft vergessen, sodass Poul allein am Flughafen gestanden und gewartet und sich schließlich ein Taxi genommen hatte. Und so ging es dann weiter.

Ich meine, Liz hatte keinen Platz für ihn, kein soziales Projekt zum Mitarbeiten, keine Familie zum Wohnen, nicht einmal einen Ort, an dem er seine Zeit verbringen konnte. Sie versprach ihm aber, dass sie sich noch darum kümmern wollte. Nur nicht gleich nach dem Camp, da flog sie ja nach London, um Urlaub zu machen und um sich zu erholen.

Poul war Anfang zwanzig, hatte blasse Haut, Sommersprossen und rotblondes Haar. Und er kam von einer Insel, von der noch niemand etwas gehört hatte. Also ich auf keinen Fall. Das heißt, ich verstand den Namen auch gar nicht, als ich nachfragte, wo er denn so herkommt. Es hörte sich an wie Föhr, aber er kam nicht aus Deutschland. Später habe ich dann zu Tuula gesagt, dass er wahrscheinlich Feuerland meinte. Tuula hat dann laut gelacht und gesagt, dass Poul vermutlich Feuerland gesagt hätte, wenn er Feuerland gemeint hätte. Nur, sie konnte laut lachen, sie hatte nämlich schon von seiner Insel gehört, weil sie aus Norwegen kam, also einfach näher dran war, so rein geografisch gesehen. Auf jeden Fall erklärte sie mir, dass seine Insel irgendwie zu Dänemark gehörte und dass es da viele Vogelarten gab, ein paar Menschen, Schafe und Wasser eben, aber mehr auch nicht

Eine Insel, auf der es ruhig war und übersichtlich, so beschrieb es Poul, als Tuula und ich ihn ein paar Wochen später gemeinsam in der Bar besuchten. Das war am Tag der deutschen Wiedervereinigung. Also, die deutsche Wiedervereinigung wurde in der deutschen Botschaft in Freetown gefeiert, dazu wurden aber nur ganz wichtige Deutsche eingeladen. Katja und Henning zum Beispiel. Henning war zwar arbeitslos, aber ein Architekt. Katja war als Ärztin in der Entwicklungshilfe tätig, konnte aber nicht mit, weil es ihr an dem Tag nicht so gut ging. Jedenfalls wollte Henning nicht alleine fahren, deswegen nahm er mich dann als Begleitung mit. Ich hab mich echt gefreut! Ich meine, in der Botschaft gab es Essen und Trinken umsonst, und das war richtig lecker. Als ich satt war, bin ich dann zu Tuula gegangen.

Sie wohnte in Freetown in der Familie von Liz, weil in der Stadt auch ihr Projekt war. Poul wohnte bei Liz, weil er nirgends ein Projekt hatte, es gab einfach keinen Ort, wo er sonst hätte bleiben können. Ich meine nachts. Tagsüber saß er in einer Seitenstraße vom Cotton Tree, wo man Stoffe für Kleidung, Trockenmilch in Dosen, dicke Mangos, einzelne Zigaretten und vieles mehr einkaufen konnte. Das war ein Markt voll mit Menschen, die an den Ständen nach Ware suchten und lautstark verhandelten, schließlich weitergingen und sich unterhielten, dann stehen blieben und sich unterhielten, sogar wieder zurückkamen und lautstark verhandelten, auch abends. Und mittendrin am Rand zur Straße, da saß Poul mit übereinandergeschlagenen Beinen in Shorts und Hemd in einer Bar. Das heißt, die Bar war eine offene Hütte mit einem Tisch an der Straße, wo man dann bei Jeremy, dem Barbesitzer, etwas trinken konnte.

Poul trank Cola aus einem Glas und freute sich, als er uns entdeckte und wir uns zu ihm setzten. Er verfolgte das Treiben auf dem Markt und gestand staunend, dass er noch nie in seinem Leben so viele Menschen in einer einzigen Straße gesehen hatte, und das jeden Tag!

Junger Mann mit schwarzer Sonnebrille, roter Baseball Cap, einem Rucksack und einer Karte, die er in der Hand hält und lächelt
Poul

Er meinte, dass er auch noch nie in seinem Leben irgendwo anders gewesen war, immer nur auf seiner Insel, die ganze Kindheit, die ganze Jugend über, bis es dann eines Tages passierte, also dass er nicht mehr wusste, was er eigentlich wollte, so für seine Zukunft insgesamt. Und da hatte er sich entschlossen, seine Insel zu verlassen, um mal ganz was anderes von der Welt zu sehen.


Als er darüber sprach, da glänzten seine Augen und ich war nicht ganz sicher, ob er Heimweh hatte oder einen Zusatz in seiner Cola. Jedenfalls erinnerte er mich an Mick Hucknall von Simply Red, wie er im Video von „Holding Back The Years“ seine Heimat verlässt und an seine Kindheit denkt.

Aber über seine Kindheit hat Poul nicht weiter gesprochen, er bestellte stattdessen bei Jeremy die nächste Runde Cola, mit was drin. Er wollte mit uns anstoßen und überlegte, worauf. Ich schlug seine Insel vor, die irgendwie zu Dänemark gehörte. Er schlug aber Deutschland vor, das irgendwie vereint war. Jeremy schlug seinen Gott, ein besseres Leben und eine neue Regierung für sein Land vor, weil das alles für ihn irgendwie zusammengehörte. Wobei, die Reihenfolge kann auch anders gewesen sein. Und dann hob Tuula ihr Glas, trank es aus und rief richtig laut: „Everything!“ Poul, Jeremy und ich haben schweigend gewartet, weil man ihr ansah, dass sie noch mehr rufen wollte, und das war dann: „Everything belongs together. Somehow!“ Damit waren wir einverstanden und nach „somehow“ haben Poul, Tuula und ich dann auf „everything“ angestoßen. Ich meine, wir haben danach auf alles angestoßen, was uns in den Sinn kam. Auch auf Poul, der an diesem Abend unvergesslich wurde, ganz ehrlich, weil man niemals einen Menschen vergisst, den man mit einem Lied verbindet.

Nach ungefähr drei Monaten war er dann wieder weg. Das erzählte Tuula, als sie uns später in Lunsar besuchen kam. Poul war nach unserem gemeinsamen Abend weiter täglich in die Bar gegangen, hatte weiter Cola getrunken, abends mit Rum, und in der Seitenstraße vom Cotton Tree das Andere der Welt bestaunt. Aber schließlich war es ihm genug gewesen oder ihm war sein Geld ausgegangen, jedenfalls war er im neuen Jahr zurück nach Hause geflogen. Und von dort schickte er eine Postkarte nach Lunsar, auf der stand, dass er sich entschieden hatte. Also für Ruhe und seine Liebe zur Natur. Und für seine Insel, die Färöer.