Elin war sich in Sachen Liebe noch nicht ganz sicher. Sie war Isländerin, groß und schlank und Mitte zwanzig. Sie hatte so funkelnde grüne Augen und ihre Stimme war dunkel.
Und wenn sie beim Erzählen ihre Arme und Hände bewegte oder mit ihren langen Beinen durch den Raum schritt, dann dachte ich manchmal, sie könne sich in einen Baum verwandeln oder versteckte Flügel ausbreiten und davonfliegen.
Elin kam uns ungefähr zwei Wochen nach Liv besuchen. Die beiden wohnten zusammen in derselben Gastfamilie und beide hatten ihren Projektplatz in derselben staatlichen Schule. Aber das mit der Schule, das war so eine Sache.
Wir saßen also an einem ihrer ersten Abende bei uns in unserem Gemeinschaftsraum unter dem Ventilator zusammen und Elin berichtete von dem Projekt in Kono. Sie erzählte, dass die Gehälter an die Lehrer nur noch sehr selten gezahlt wurden und schon lange nicht mehr in voller Höhe und dass die Lehrer deswegen auch nur noch gelegentlich zur Schule kamen. Es gab dort im Grunde nur noch Mitarbeiter aus Hilfsorganisationen, die in der Schule den Unterricht organisierten. Und Liv und Elin waren ein oder zwei Stunden am Tag mit den Kindern am Singen oder Spielen. Die meiste Zeit aber, gestand Elin uns, war sie unterwegs, um die Umgebung und die Menschen kennenzulernen.
Elin sprach auch über Liv und Karim. Sie erzählte, dass Karim Libanese war und in dem Unternehmen seiner Eltern arbeitete, die auch die Schule finanziell unterstützten. Und dass Karim durch die Firma seiner Eltern schon viel im Ausland gewesen war, sich aber die meiste Zeit in Kono aufhielt, weil da die Miene war. Also die Miene, in der die Diamanten abgebaut wurden, mit denen seine Familie handelte. Und das erfuhren Liv und Elin von Karim auf einer kleinen Willkommensfeier, die von der Schule für die beiden organisiert worden war.
„Als Karim sich bei uns vorstellte“, erzählte Elin weiter, „da ist Liv sofort aktiv geworden.“ Sie verriet uns, dass Liv ihr noch am selben Abend offenbarte, dass Karim der richtige Ehemann für sie war und dass Liv ihn schon für den nächsten Tag zu sich eingeladen hatte. „Und da hat Liv ihn dann von sich überzeugt“, lachte Elin. Sie erklärte uns, dass sie an dem Tag zufällig ins Zimmer gekommen war, also als Liv schon nichts mehr anhatte. Aber mehr erzählte Elin uns nicht, weil Liv aus einer konservativen Familie kam und sie darum gebeten hatte. Elin war das aber auch total egal, wie sie uns versicherte, und nur noch hinzufügte, dass Liv einen echten Diamanten in der Tasche hatte, als sie uns in Lunsar besuchen gekommen war, für den Verlobungsring.
„Really?“, wunderte sich Liam, „she probably forgot to tell that.“ Josh lachte und ich musste auch lachen und dann ging der Strom aus. Liam zündete eine Kerze an, Dorli stellte ihre Batterien zur Verfügung, damit wir weiter Musik hören konnten und Elin sprach dann bei Kerzenlicht weiter, so von Liebe allgemein: „Manchmal“, sagte sie, „da fängt es im Bauch an und manchmal im Gehirn, da, wo gerechnet wird, aber eine Sicherheit, die gibt es nicht, für niemanden.“ Ich fand das irgendwie philosophisch und alles war so angenehm. Also dass wir bei Kerzenlicht saßen und auch noch kaltes Trinkwasser aus dem Kühlschrank hatten und im Kassettenrecorder spielte „And It Stoned Me“, von Van Morrison. Vermutlich war das so ein Moment, in dem das Leben ganz einfach war.
Jedenfalls erzählte Elin weiter, dass sie sich von Jon, ihrer Liebe in Island, getrennt hatte. Und dann begann sie zu flüstern, als würde sie uns eine magische Formel verraten: „Die Liebe fing damals bei mir im Bauch an!“ Sie stand auf, legte sich ihre Hände auf den Bauch und zeigte uns, wo die Liebe sie zuerst getroffen hatte und zeigte weiter, auf welchem Weg sie durch ihren Körper geflutet war. „Trotzdem“, verriet sie uns seufzend, „musste ich mich von Jon trennen. Aber das hatte nichts mit ihm zu tun.“ Sie machte eine kurze Pause: „Er wollte mit mir für immer zusammenleben!“
„So what?“, rief Josh irritiert, was ein wenig ungewöhnlich war, weil er sich schon auf dem Kennlerncamp mit Elin so gut verstanden hatte, als würden sie sich ewig kennen und ohne Worte verstehen.
„Mein Herz hat geblutet“, versicherte Elin, „aber ich musste es tun!“ Und dann legte sie ihre rechte Hand auf ihre linke Brust, senkte den Kopf, um zu zeigen, wie schwer ihr die Trennung gefallen war, und erklärte. „Ich bin einfach noch zu jung, um zu entscheiden, ob ich mit einem Mann oder einer Frau zusammenleben will.“
„Really?“, sagte Liam verwundert, aber mehr sagte er diesmal nicht. Josh schnippte seine abgebrannte Kippe in den Raum und räusperte sich, als würde er nach den richtigen Worten suchen, um ein Statement abzugeben, wie er das gern zu den ganz großen Themen tat, also Weltfrieden oder Freiheit oder Gleichberechtigung für alle und so. Nur, es war dann doch schon sehr spät. Dorli gähnte, Liam nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen, und ich war auch müde und dachte: Oh!
Und da legte Elin ihre Hand auf die Schulter von Josh und begann zu singen, also das Lied mitzusingen, das aus dem Kassettenrecorder erklang. Das war dann aber nicht mehr von Van Morrisson, das war von U2 und da haben wir schließlich alle mitgesungen, zumindest den Refrain: „I Still Haven't Found What I'm Looking For.“ Und vermutlich war es auch das, was Elin mit ihrer Liebe meinte. In gewisser Weise zumindest.