Josh hatte seine Liebe schweren Herzens in Texas zurückgelassen. Er musste dringend ganz allein über sein Land nachdenken.
Womit er aber nicht nur Texas, sondern die gesamten USA und außerdem den ganzen anderen Shit meinte, also Kapitalismus und Imperialismus und Ausbeutung und Armut und so.
„Money fucks“, erklärte er uns und tippte dabei an seine Schläfe, weil er das Innere, das Gehirn meinte. Das war gleich in den ersten Tagen nach unserer Ankunft, als wir in unserer internationalen Wohngemeinschaft an unserem Gemeinschaftstisch saßen und darauf warteten, endlich loslegen zu können, um das Richtige zu tun. Irgendwie jedenfalls. Josh sah aus wie Dave Gahan von Depeche Mode. Ich meine, vom Kopf her, mit schmalen blassen Gesicht und schwarzen zurückgekämmten Haaren. Mit seiner Kleidung eher nicht, das lag an seiner kaki Weste und an seinen kaki Shorts, die er jeden Tag anhatte und die hatten total viele Taschen. Josh sah aus, als müsse er jederzeit in der Lage sein, eine Lupe aus der Weste zu ziehen, um ein Insekt zu betrachten, oder ein Fernglas, um einen Vogel zu beobachten.
Ich meine, insgesamt sah er aus wie Dave Gahan als ein Naturkundler in einem Feldforschungsprojekt. Aber so war er nicht. Josh trug in seinen Westentaschen nur die wesentlichen Dinge seines Lebens direkt am Körper: Zigaretten zum Nachdenken, ein Taschenmesser zum Überleben und ein Foto von Mia. Mia war seine Liebe in Texas. Und Mia sah auf dem Foto aus wie Stevie Nicks von Fleetwood Mac, ich meine das Video, in dem sie „Gypsy“ singt und in einem Zauberwald tanzt. Das Bild von ihr, das sah er sich an, um sich zu beruhigen, wenn er Chaos im Kopf hatte. So jedenfalls erklärte er es mir später mal bei einem meiner täglichen Besuche, wenn ich bei ihm an seinem Tresen stand und wir über unsere Erlebnisse im Krankenhaus sprachen.
Der Tresen, der wurde der Arbeitsplatz von Josh. Im Grunde war es ein kleines Büro mit einem Tresen zur Tür hin. Und an die Tür kamen täglich die Patienten oder Familienangehörigen von Kranken, um Rechnungen für Behandlungen zu bezahlen. Es gab im Land ja keine Krankenversicherung. Gut, eigentlich gab es auf nichts im Land eine Versicherung. Jedenfalls mussten die Menschen ihre Geldscheine auf dem Tresen stapeln. Das lag aber nicht an hohen Preisen im Krankenhaus, sondern an der hohen Inflationsrate im Land. Die war so hoch, dass die Menschen ihre Geldscheine bündelten und in Taschen und Tüten zum Krankenhaus transportierten. Und das ganze Geld, das dann auf dem Tresen gestapelt wurde, das musste Josh zählen, ausgerechnet, und damit war er den ganzen Tag beschäftigt.
Wenn Josh mit dem Geld zählen fertig war, saß er rauchend auf der Stufe vor unserem Eingeschossreihenhaus und dachte nach, oder er schlenderte in kaki Weste und kaki Shorts über das Krankenhausgelände, oder er lief einfach so durch die Gegend. Aber einmal, da rannte er. Das war einer dieser Tage, an denen Bruder William ihm ein „Time Magazine“ aus Freetown mitgebracht hatte. Bruder William war im Krankenhaus eine Art Bruder für alle Fälle. Er half Bruder Alfredo in der kleinen Krankenhausapotheke, er unterstütze Bruder Jervis in der Verwaltung oder er verteilte mittags an der Seite von Schwester Valeria das Essen an die Patienten. Und einmal in der Woche fuhr er in die Hauptstadt, um Dinge zu erledigen und um Sachen einzukaufen, die es in Lunsar nicht gab, das „Time Magazine“ zum Beispiel. Also, Josh bestellte es bei ihm gelegentlich und an jenem Tag sah ich ihn direkt auf mich zulaufen, als ich gerade aus dem Schwesternzimmer der Station getreten war. Er hielt das Nachrichtenmagazin hoch, wedelte damit in der Luft und rief: „Kaum verlasse ich mein Land, fängt es einen Krieg an!“
Und damit meinte er den Krieg der USA gegen den Irak. Wir hatten davon kaum etwas mitbekommen, weil es keinen Fernseher gab, nicht einmal ein Radio und außerdem hatten wir nur ein paar Stunden Strom am Tag. An jenem Tag saßen wir dann Abends in unserer internationalen Wohngemeinschaft an unserem Gemeinschaftstisch unter dem Ventilator und waren gemeinsam gegen den Krieg. Und gegen alle Kriege auf der Welt! Das war so ein Moment, in dem wir uns verbunden fühlten. Aber Josh nahm den Krieg persönlich.
Er rauchte später vor unserer Tür eine afrikanische Zigarette und trank dann noch später Palmwein am Tisch und dabei diskutierte er aufgeregt mit Liam, weil Liam der Einzige war, der seinen texanischen Dialekt verstand. Wenn Josh aufgeregt war, dann sprach er sehr schnell und Dorli und ich konnten ihn nicht verstehen. Wobei, wir verstanden immerhin die wichtigsten Begriffe, um die es sich drehte, also „oil“ und „money“ und „fuck“. Und wir nickten auf jeden Fall unsere Zustimmung, wenn wir „fuck“ hörten. Nur, Josh wollte sich gar nicht mehr beruhigen, bis er schließlich bei seiner letzten Zigarette angekommen war. Er zog die Schachtel aus seiner Feldforscherweste, klemmte sich die letzte Lunte zwischen die Lippen, legte die Füße auf den Tisch, rauchte am Tisch, schnippte schließlich die Kippe in sein Palmweinglas und erklärte uns, dass er ein Zeichen setzen musste.
Josh konnte es nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren, weiterhin mit uns im Luxus zu leben. Er meinte mit stundenweise Strom und meistens fließend Wasser, einer richtigen Matratze zum Schlafen und mit einem funktionierenden Wasserklosett. Er wollte sich mit den Armen solidarisieren und ihr Leid teilen. Ja, das teilte er uns mit schon an einem der folgenden Tage zog er bei uns aus und in eine Lehmhütte ein. Da lebte er dann bis zum Ende des Aufenthaltes ohne Strom und ohne fließend Wasser, er schlief auf dem Boden und bei Bedarf konnte er sich hinter einer Wellblechwand auf ein Brett setzen, unter dem ein Loch war. Und das war ja immer noch besser, als gar kein Klo. Ins Krankenhaus kam er aber weiterhin jeden Tag, um an seinem Tresen das viele Geld zu zählen.
Nachdem Josh ausgezogen war, kam uns dann Long John immer häufiger besuchen. Er war ein einheimischer Krankenhausmitarbeiter in unserem Alter und ein Kollege von Liam. Und Long John wohnte in einer Lehmhütte. Nach der Arbeit saß er häufig in unserer Wohngemeinschaft am Tisch, ganz besonders gerne, wenn wir Strom hatten. Dann streckte er seine langen Beine aus, hielt sein Gesicht in den Wind, den der große Ventilator über dem Tisch erzeugte und trank kaltes Wasser aus unserem Kühlschrank. Einmal verschluckte er sich fast, weil er Wasser im Mund hatte, als er plötzlich lachen musste. Das war, als er erfuhr, dass Josh in die Lehmhütte gezogen war, um ein Zeichen gegen den Krieg und gegen Ausbeutung und Armut zu setzen. Long John sagte, dass er von Anfang an gemerkt hatte, dass bei Josh im Kopf irgend etwas verrückt war. Er fand es aber trotzdem cool, dass er ausgezogen war, weil er selbst gern bei uns einziehen wollte. Long John wollte in dem Bett von Josh schlafen und das Zimmer mit Liam teilen, aber das wollte Liam nicht. Liam fand es nämlich angenehm, einen Raum für sich allein zu haben.
Und so blieb das Bett dann unbenutzt.
Zumindest, wenn Josh nicht da war. Gelegentlich kam er tagsüber vorbei, um ein paar Stunden Schlaf auf seiner alten Matratze nachzuholen. Das Leben in so einer Lehmhütte war nämlich verdammt
hart, wie er uns erklärte, und er freute sich immer, wenn Dorli ihm etwas zu essen kochte. Manchmal klopfte er auch abends an unsere Tür, wenn es noch Strom gab, weil er Chaos im Kopf hatte. Dann
setzte er sich an unseren Gemeinschaftstisch, zog das Bild von Mia aus seiner Feldforscherweste und besah es sich im Lampenlicht. Aber wenn er sich dann wieder beruhigt hatte, ging er jedes Mal
zurück in seine Lehmhütte. Und setzte sein Zeichen gegen alle kriege auf der Welt!